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Die Angst vor dem sozialen Tod

Menschen haben verschiedene Bedürfnisse – aber nicht alle sind gleich wichtig. Essen, Trinken, Schlaf, Luft zum Atmen, ein Dach über dem Kopf und Beachtung, also Gesehen-Werden-Ohne-Erwartungen sind die Grundbedürfnisse. Sind sie unerfüllt, sterben wir. Ohne Wenn und Aber. Erst dann kommen alle anderen Bedürfnisse: Sicherheit, Abwechslung, Freiheit, Geborgenheit, Vertrauen, Liebe, Macht und so weiter. Aber eins ist wichtiger als die anderen: Die Verbindung zu den anderen, die Zugehörigkeit zur Gruppe. Die brauchen wir gefühlt unbedingt.

Wer ausgestoßen wurde, war dem Tod geweiht

Gehen wir zurück in die Frühzeit der Menschheit. Wir haben in einer Gruppe gelebt, in einer Höhle, die Welt war wild und voller Tiere, die ständig hungrig waren. Damals kamen die Menschen gut zurecht – sonst wären sie nicht so weit gekommen. Allerdings lag ihr Vorteil in der Gruppe und in ihrer Kommunikation. Menschen konnten sprechen, Informationen austauschen (wo lebt der Säbelzahntiger? Welche Beeren sind giftig?), zusammen Tiere erlegen und sich in der Gruppe gegenseitig schützen. Wer aus der Gruppe ausgestoßen wurde, war dem Tod geweiht. Man konnte ja nicht einfach zur nächsten Höhle gehen und fragen, ob man rein darf. Das ging nicht. Wer die Zugehörigkeit verloren hatte, war so gut wie tot. Kein sicherer Unterschlupf, kein Schutz vor Raubtieren. Darum wirkt die Urangst, die Verbindung zur Gruppe zu verlieren, so stark. Darum tut Mobbing so weh und bereitet so viel Panik. Und darum tun Opfer von Mobbing extrem viel, um wieder dazuzugehören – selbst wenn ihnen übel mitgespielt wird. Und auch, wenn der bewusste Verstand sagt: Die sollen mir doch den Buckel runterrutschen! Es geht aber nicht. Die Instinkte senden Panik, und keine Erniedrigung  ist groß genug, um nicht akzeptiert zu werden, damit man wieder Teil der Gruppe wird.

Das erklärt, warum ich kürzlich mit einer einzigen Frage bei einer Klientin nackte Panik ausgelöst habe. Sie ist selbstständig, sagen wir, sie hat ein Kosmetikstudio. Sie hat viele Jahre hart dafür gearbeitet, viele Stunden, die Kredite waren Anfang 2020 fast zurückgezahlt. Ein Erfolg. Endlich Aussicht auf ein leichteres Leben.

Dann kam Corona, und dann kamen die Lockdowns. Jetzt ist sie so gut wie pleite. Ihre Lebensversicherung hat sie gekündigt, ihrer Putzfrau auch, der Vermieter erlässt ein paar Euro von der Miete, sie spart wo sie kann. Aber mehr geht nicht, und sie schimpft auf die Regierung, weil auch von den versprochenen Hilfen bei ihr so gut wie nichts angekommen ist. Ihre Existenz ist zerstört.

Was sie denn tue, fragte ich sie. Naja, hoffen, sagte sie, dass es bald vorbei ist und dass sie wieder aufmachen kann. Und wenn nicht? fragte ich sie. Keine Antwort. Ob sie sich irgendwie beschwert hätte, ob sie auf ihre Situation aufmerksam machen würde, vielleicht durch ein Plakat, Flyer, Posts oder ob sie demonstrieren würde, oder klagen? Während ich das aufzählte, wurde sie immer blasser. Nein, natürlich nicht! rief sie und wirkte dabei erschrocken. Warum denn nicht? fragte ich. Sie habe doch nichts mehr zu verlieren, und sie sei doch wirklich unverschuldet in diesen Schlamassel geraten. Nein, sagte sie, sie wolle nicht für egoistisch gehalten werden oder gar für eine Aluhutträgerin oder noch schlimmer, eine Rechtsradikale. Auf keinen Fall. Lieber pleite gehen? fragte ich. Man kann ja eh nichts machen, antwortete sie nach einer Pause. Das stimmt natürlich nicht. Ob man etwas machen kann oder nicht, weiß man hinterher, und zwar nur, wenn man es probiert hat. Wer nichts probiert, kann auch nicht gewinnen. Aber diese Haltung ist typisch, wenn man sich nicht traut, aktiv zu werden.

„Bevor ich meine Freunde verliere, riskiere ich lieber die Pleite“

Die Argumente, die meine Klientin mir nannte, zeigen die Angst vor dem sozialen Tod: Bevor ich riskiere, dass mich jemand verurteilt und ausschließt, und ich meine Zugehörigkeit verliere, vielleicht meinen Ruf oder meine Freunde, riskiere ich lieber die Pleite. Junge Menschen nennen das „ghosten“, jemanden behandeln, als sei er gar nicht da. Das ist der soziale Tod. Davor haben wir unfassbare Angst, wir sind bereit, fast alles zu tun und zu ertragen, um das zu vermeiden. Das ist normal, weil das Bedürfnis nach Zugehörigkeit wichtiger ist als das nach Erfolg und einem Leben in Wohlstand. Lieber arm als alleine. Die Biologie steuert uns fern, jedenfalls, solange wir uns dessen nicht bewusst sind. 

Wenn du weißt, was dich bremst, kannst du etwas anderes probieren

Erst wenn wir merken, was uns bremst, können wir bewusst überlegen: Was ist jetzt das Richtige? Was kann ich tun? Was kann ich probieren? Was ist dran? Wo will ich mich wehren oder Stellung beziehen, und welche Freunde brauche ich vielleicht auch nicht mehr, wenn ich in der Schule gemobbt werde?

Denn anders als früher sind wir nicht mehr auf eine spezielle Gruppe angewiesen. Wenn mich die einen nicht mögen, kann ich andere finden.

Wir leben in einer so beweglichen Welt mit so vielen verschiedenen Werten, dass ich immer wieder auf’s Neue Anschluss finden kann, wenn ich mich dazu entscheide, etwas zu risikieren. Während die Biologie noch auf dem Stand unserer frühen Vorfahren funktioniert, kann die Psychologie entscheiden: Ich werde aktiv. Ich lasse mir etwas nicht gefallen, auch wenn ich mich damit exponiere. Egal ob in der Schule, im Job, in der Gesellschaft. Nie war die Zeit dafür besser!

Das Beitragsbild basiert auf einer Arbeit von George Coletrain auf Unsplash. Portrait Anke Precht von Markus Dietze

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