Ich möchte, wenn ich alt bin, nicht ins Altersheim. Ich möchte essen, wenn ich Hunger habe oder auch nicht, ohne dass mich jemand ermahnt. Auch nicht, wenn es gut gemeint ist. Die Vorstellung, einen Teil der Verantwortung für mich selbst abzugeben, war mir schon immer ein Graus. Lieber sterbe ich ein paar Monate früher, als dass man mich durch Pflege und Sonde füttert, ich möchte selbst für mich entscheiden, und wenn ich das nicht mehr kann, dann möchte ich mich verabschieden und das auch dürfen. So weit, so gut.
Inzwischen habe ich den Eindruck, dass das, was ich unbedingt vermeiden wollte, immer mehr Teil des Alltags in der Gesellschaft wird. Kaum ein Bereich, in dem wir nicht zunehmend bevormundet werden. Das geschieht perfide, nicht etwa durch Befehle oder krasse Verbote, aber zum Wohl des großen Ganzen, hinter der Maske des Guten. Zum Wohl des Klimas, der Welt, der Freiheit einzelner, ganz Bestimmter, konkreter Gruppen oder gar bestimmter Befindlichkeiten. Die Waffen, die das Verhalten steuern, sind das Gewissen und drohende gesellschaftliche Ächtung. Wer weiterhin Fleisch essen oder schnell Auto fahren möchte, muss sich schämen, weil ihm egal ist, dass die Welt untergeht. Wer nicht gendert, diskriminiert und ist ein schlechter Mensch. Das gesellschaftliche Klima, das sich hinter diesem neuen Guten verbirgt, ist rau und oft brutal.
Alles soll sicherer werden, damit wir länger und glücklicher leben können. Klingt gut, klappt aber nicht. Die Lebenserwartung sinkt, die Menschen werden immer kränker. Sogar psychisch, und körperlich sowieso. Sie werden trotz klarer Ernährungsempfehlungen immer dicker, sie werden depressiver, und sie sind immer weniger leistungsfähig. Darauf nimmt man dann Rücksicht, auch das gebietet die Moral, denn Schwächere verdienen Schonung. In wieweit sie wirklich schwächer sind oder dazu gemacht wurden, das frage ich mich immer häufiger.
Ich persönlich bin zunehmend genervt davon, dass mir ständig jemand vorschreibt, wie ich zu leben habe, was richtig sei oder falsch. Das geht bei der Frage los, warum ich zu einem beruflichen Termin nicht mit dem Zug fahre. Die Antwort ist einfach: Weil die Bahn mich nach dem Termin nicht mehr nach Hause bringt. weil ich kein Hotel buchen will oder kann, da ich am nächsten Morgen wieder arbeite. Und weil nicht klar ist, ob mich die Bahn pünktlich zum Termin bringt. Natürlich könnte ich um 5 Uhr morgens losfahren. Das möchte ich aber nicht. Diesen Fragen argumentativ zu begegnen ist kein Problem. Dass ich das machen muss, finde ich zunehmend anstrengend und übergriffig.
Vielleicht ist diese permanente indirekte gesellschaftliche Kontrolle ja mit ein Grund, dass viele Menschen depressiv werden, also unlebendig und taub? Weil sie ständig überlegen müssen, wie sie sich politisch korrekt verhalten, das Richtige sagen, das Richtige essen, sich richtig fortbewegen, die richtigen Freunde haben, und die richtigen Ansichten? Immer unter Beobachtung sein, in echt, im Netz, das ist anstrengend. Die ständige Fremd- und Selbstbeobachtung macht das Leben mühsam und die Räume eng. Und die Toleranz, die beschworen wird, gilt für manche mehr als für andere. Das führt zu einem ziemlichen Spießrutenlauf auf die Dauer. Ich glaube, gesund für die Psyche und für unsere Beziehungen ist das nicht.
Ich denke weiter drüber nach.