Scheitern tut weh. Niemand mag das. Deshalb liegt es nahe, das Scheitern wo es geht zu vermeiden, oder?
Stimmt und auch nicht. Klar ist sinnvoll, wenn ich das, was ich tue, so gut tue wie ich kann. Wenn ich aber um jeden Preis das Scheitern vermeiden möchte, gibt es viele Dinge, die ich erst gar nicht tun werde.
- Etwas anfangen, was ich noch nicht gut kann? Lieber nicht, ich mache ja sicher erst einmal viel falsch.
- In einer Sprache sprechen, die ich noch nicht beherrsche? Besser nichts sagen, bevor ich mich blamiere.
- Einen neuen Sport ausprobieren? Den können andere ja viel besser, da mache ich mich sicher lächerlich.
- Eine Reise machen, auf die ich mich nicht perfekt vorbereiten kann? Lieber daheim bleiben oder dahin fahren, wo ich mich schon auskenne.
- Jemanden ansprechen, den ich noch nicht kenne? Lieber nicht. Nicht dass ich einen Korb kriege
- Etwas risikieren? Oje.
Überall da, wo ich mich entwickeln kann, ist das Risiko zu scheitern schon da. Wenn ich das also unbedingt vermeide, werde ich mein ganzes Leben in der Komfortzone leben. Einen Job machen, in dem ich mich auskenne – und irgendwann zu Tode langweile. Ich bleibe sogar an einem Arbeitsplatz an dem es mir gar nicht gefällt, in dem ich mit den Kollegen nicht gut auskomme. Ich weiß immerhin, wie alles läuft, da kann mir niemand an den Karren fahren. Dann hole ich mir meinen Kick an Lebendigkeit im Europapark (wo alles sicher ist), oder durch Konsum. Und bleibe doch unzufrieden, weil ich eigentlich nicht das Leben lebe, das aus mir heraus will.
Kinder lernen laufen und nehmen die Möglichkeit des Scheiterns ganz selbstverständlich an. Sie landen zig mal auf dem Hintern und stehen einfach wieder auf. Sie probieren es wieder und wieder, bis es klappt. Sie machen sich keinen Kopf, weil sie hingefallen sind, sie machen sich nicht selbst fertig, sie überlegen auch nicht, ob sie sich vielleicht nun blamiert haben könnten. Wenn es weh tut, weinen sie, bis es nicht mehr weh tut, und dann probieren sie es wieder.
Warum also ändert sich das bei vielen Menschen irgendwann mal im Leben?
- Was sollen die Nachbarn denn denken?
- Schuster, bleib bei deinen Leisten
- Das ist nichts für uns
- Lass das…
- Du kannst das halt nicht / Mathe ist halt nichts für Mädchen / Jungs sind halt besser in Naturwissenschaften als in Franzözisch
In den meisten Familien wird mit Scheitern nicht gut umgegangen. Mathe fällt schwer? Du bist halt nicht begabt. Richtig wäre: Probiere es noch einmal! Und noch einmal. Und wenn es dann klappt, dann feiern wir! So würden Kinder lernen, dass es okay ist, wenn sie erst einmal einen Bock schießen, einschließlich der schlechten Note. Egal. Auf den Hintern gefallen. Laufen klappt halt nicht gleich beim ersten Versuch. Probiere es wieder und mach es ein bisschen anders als das letzte Mal. Und natürlich gehört dazu, dass die Eltern mit gutem Beispiel vorangehen und ihren Kindern zeigen: Auch ich baue mal Mist. In der Neunten sitzengeblieben? Erzählen, wenn ein Kind unter einer Drei in Geografie leidet, anstatt die alten Zeugnisse zu verstecken. Bei der Arbeit ist etwas schief gelaufen? Mitteilen, mit einer guten Prise Galgenhumor. Den Kindern gegenüber falsch reagiert, etwas Kränkendes gesagt? Zugeben. Eltern, die selbst entspannt mit ihren Fehlern und ihrem Scheitern umgehen, sind Voraussetzung dafür, dass ihre eigenen Kinder es auch ganz selbstverständlich lernen.
Stattdessen fokussieren sich Kinder ganz schnell auf das, was ihnen leicht fällt. Sprachen? Klappt. Das ist meine Begabung, darauf konzentriere ich mich halt, das andere kann ich eben nicht. Sie schränken sich und ihre Möglichkeiten immer mehr ein und merken es nicht. Meistens ist ihnen gar nicht klar, dass sie das, was sie nicht tun, eigentlich könnten, wenn sie es einfach ein bisschen häufiger probiert haben.
Um Scheitern zu vermeiden, verzichten ganz viele Menschen auf ganz viele Chancen. Sie leben ein Leben in Ausschnitten und nehmen sich die Möglichkeiten, Dinge zu erleben, die aufregend und lebendig sind. Wer scheitern kann, das aushält, etwas daraus lernt und dann weiter macht, ist nicht nur glücklicher, sondern in der Regel auch erfolgreicher als die anderen, die in gemütlichen und Sicherheit gebenden Komfortzonen vor sich hinvegetieren.
Und noch ein Aspekt ist wichtig: Wer es gewohnt ist zu scheitern, kommt viel besser damit klar, wenn ihm das Leben mal richtig fies reingrätscht. Denn er ist es ja gewohnt, dass Pannen passieren und hat ein viel dickeres Fell als der Nachbar, der sich dem nie ausgesetzt hat.
Zeit also für mutiges Handeln, Zeit, endlich schon lang gehegte Träume anzugehen, Zeit, sich an Menschen heranzutrauen, die man schon lange einmal treffen wollte, und Zeit, das Leben wie ein Kind zu erobern. Zeit, Risiken einzugehen. Den Job zu wechseln. Nochmal was ganz Neues zu lernen. Eine Beziehung zu verändern oder zu verlassen, die schon nur noch gut erträglich ist. Dann erschließen sich neue Welten, garantiert.
Ich nutze die Erfahrung des Scheitern als Beweis dafür, dass ich immer noch Neues wage. Ich scheitere nicht absichtlich, ich mag das Gefühl nicht. Wenn ich aber schon lange nicht mehr auf die Nase gefallen bin, weiß ich sicher: Ich bin unter meinen Möglichkeiten, ich wage zu wenig. Dann suche ich nach neuen Projekten und neuen Herausforderungen. Bist du dabei?