Ich erlebe in meiner Arbeit ständig, dass Menschen sich mit oft ganz heftigen Schuldgefühlen herumschlagen. Manchmal wegen Kleinigkeiten, und oft wegen Dingen, für die sie wirklich überhaupt nichts können. Da zieht eine Freundin kurzfristig um und fragt nach Hilfe beim Umzug – just für genau das Wochenende, wo die Fortbildung stattfindet. Also keine Chance, beim Umzug zu helfen, keine Schuld, trotzdem Schuldgefühle. Oder der Mutter geht es schlecht, sie fühlt sich einsam, die Tochter lebt mit ihrer Familie am anderen Ende der Republik und kann nicht kommen, zumindest nicht regelmäßig, so wie die Mutter sich das wünschen würde. Die Tochter hat der Mutter angeboten, in ihre Nähe zu ziehen, die will das aber nicht. Die Tochter fühlt sich schuldig. Einfach, weil sie ihr Leben lebt, sich um ihre Kinder kümmert, da ist wo ihre Arbeit ist, und weil die Mutter nicht bereit ist, aus ihrer gewohnten Umgebung zu gehen, trotzdem aber erwartet, dass die Tochter bei ihr ist. Oder: Schuldgefühle wegen einer Panne bei der Arbeit, für die die Kollegin verantwortlich ist. „Ich hätte es kontrollieren können.“
Ist das nicht irre?
Seit einigen Jahren freue ich mich immer wieder über Schuldgefühle, die auf meiner „Deponie“ entsorgt werden. Was mir dabei auffällt ist, dass die wirklich schlimmen, die quälenden, die langandauernden Schuldgefühle in den meisten Fällen mit den Eltern zusammenhängen. Entweder, weil es den Eltern schlecht geht, und die Kinder es nicht geschafft haben, sie glücklich zu machen. Oder weil die Erwartungen der Eltern nicht erfüllt wurden, sei es im Tun, manchmal aber auch im Sein: „Ich bin nie das Kind gewesen, das sich meine Eltern gewünscht haben.“ „Ich war nicht für meine Eltern da, als sie mich gebraucht haben, sondern habe mich um meine Ausbildung gekümmert.“ „Meine Mutter war depressiv, und eines Tages war sie nicht mehr da.“
Schuldgefühle entstehen meistens da, wo wir uns als Kinder falsch fühlen. Wir sind das falsche Kind, wir sind anstrengend für die Eltern (was Kinder nun einmal sind, c’est la vie), wir erfüllen die Hoffnungen der Eltern nicht, sind vielleicht nicht gut genug in der Schule oder wollen den elterlichen Betrieb nicht übernehmen oder den Bauernhof, auf dem die Familie lebt. Manche Menschen fühlen sich so schuldig, dass sie ihr eigenes Leben hintenanstellen und das tun, was sich die Eltern wünschen, nur damit sie die Schuldgefühle nicht mehr haben müssen. Das Blöde: Meistens funktioniert es nicht. Denn geht doch mal eine Kleinigkeit schief, der Hof ist übernommen, aber die Weide nicht genauso eingezäunt, wie die Eltern sich das wünschen, sind die Schuldgefühle sofort wieder da…
Mein Lehrer, der Arzt und Psychotherapeut Wolf Büntig, der voriges Jahr verstorben ist, hatte dazu eine schöne Übung: „Schau in der Vorstellung deine Eltern an,“ hat er gesagt, „und sage ihnen Folgendes: ‚Ich bin nicht das Kind, das ihr euch gewünscht habt. So ist das. Man muss nehmen, was man kriegt.‘“
Diese einfachen drei Sätze wirken häufig entlastend. Und wenn ich an meine eigenen Kinder denke, muss ich schmunzeln. Auch die sind nicht immer so gewesen, wie ich mir das gewünscht hätte. So what? Das ist schließlich mein Problem – nicht ihres.
Vielleicht magst du es ja mal ausprobieren. Oder dein eigenes Schuldgefühl auf der Deponie entsorgen?